In jeder Hinsicht

Kirche in WDR3 | 20.03.2024 | 00:00 Uhr

Autor:

Guten

Morgen,

als erstes fällt das knallgelbe Quietscheentchen ins Auge, das den altehrwürdigen

Rahmen des Bildes sprengt. Mit Knopfauge und rotem Schnabel. Ein Kind hält das Entchen

im festen Griff seines Händches, den Arm lang ausgestreckt. Und es schaut, als

gäbe es nichts Wichtigeres als dieses Quietscheentchen. Bei dem Kind, das da

auf dem Schoß einer jungen Frau sitzt, ist etwas anders. Das merke ich erst als

zweites. Die mandelförmigen Augen stehen weit auseinander, der Mund ist weit

offen und die Zunge groß und schlaff. Mir wird klar: Das Kind hat das

Downsyndrom, Trisomie 21. Wie jedes achthundertste Kind, das weltweit geboren

wird.

Die

Frau auf dem Bild hat den Blick gesenkt. In sich gekehrt sieht sie aus, die

Lippen lächeln und die Hände sind gefaltet vor dem Bauch ihres Kindes. Und man

fragt sich: Woran sie wohl denkt, worum sie bittet und wofür sie dankt?

Das

Bild heißt „Madonna mit dem Kinde“; es hängt im RELíGIO Museum in Telgte. Die

Künstlerin Madeleine Dietz hat es geschaffen. Sie hat dafür ein Andachtsbild

aus dem 16. Jahrhundert mit dem Computer bearbeitet und das Jesuskind auf

Marias Schoß durch ein Kind von heute mit Downsyndrom ersetzt. Aber was heißt

hier eigentlich ersetzt?

Ich

weiß nicht, wie Sie sich das Jesuskind vorstellen. Aber mir fällt auf, dass

Jesus egal ob bei den Frommen oder den Politischen, den Modernen oder den

Traditionellen, eigentlich immer wie die ein bisschen bessere Version, die ein

wenig perfektere Kopie von uns selber erscheint. Wo sollte denn Gott wohl auch

Mensch werden als in einem, der so ist, so redet, so denkt wie ich. Bloß den

Gefallen tut er mir nicht.

Eine

Betrachterin des Bildes in Telgte hat einmal gesagt:

Sprecherin

(weiblich): „Für mich […] zeigt so ein Bild, wie [Menschwerdung Gottes]

gemeint ist. […] Ein totaler Perspektivwechsel. Aber ich frage mich wie viele

Christen diesen Perspektivwechsel wirklich vollzogen haben. Das gilt auch für

mich. Ich müsste mir auf dem Schoß Mariens an gewissen Tagen eine psychisch

oder demenziell [E]rkrankte […] vorstellen, die an den Nerven zerrt. […] ich

glaube, um so einen Perspektivwechsel zu vollziehen, muss man selbst ziemlich

an Grenzen gekommen sein.“ (1)

Autor:

Die

Frage, wie Jesus Christus ist, wem er ähnelt und wem nicht, die treibt

Generationen von Christinnen und Christen um. Immerhin ist in Jesus nach

christlichem Verständnis Gott selbst Mensch geworden. Der Apostel Paulus

schreibt einmal dazu:

Sprecherin

(weiblich): „Christus hielt nicht daran fest, Gott gleich zu sein – wie ein

Dieb an seiner Beute. Er […] wurde in allem den Menschen gleich. In jeder

Hinsicht war er wie ein Mensch.“ (2)

Autor:

In jeder

Hinsicht wurde Gott Mensch. Auch in der, die mir nicht passt, die mich

verwirrt, und mir manchmal viel abverlangt.

Das

ist das knallgelbe Quietscheentchen, das der menschgewordene Gott frech in

meine glatten Selbstbilder hält, in mein Ideal vom Menschsein und übrigens auch

in mein Bild von Gott selbst. Gott geht mit mir an Grenzen und für mich darüber

hinaus.

Was

könnte wichtiger, tröstlicher und heilsamer sein?

Einen

überraschenden Tag, wünscht Ihnen

Ihr

Jan-Dirk Döhling aus Bielefeld.

(1) Zitiert nach:

Werner Schüßler, Die Dinge anders sehen, in: Bibel heute 235.3 (2023),

Seite 30.

(2) Philipperbrief

2,7 Basisbibel.

Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/63589_WDR35240320Doehling.mp3

  • 20.3.2024
  • Jan-Dirk Döhling
  • Foto: Barbara Bierbaum
Downloads