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Guten
Morgen,
als erstes fällt das knallgelbe Quietscheentchen ins Auge, das den altehrwürdigen
Rahmen des Bildes sprengt. Mit Knopfauge und rotem Schnabel. Ein Kind hält das Entchen
im festen Griff seines Händches, den Arm lang ausgestreckt. Und es schaut, als
gäbe es nichts Wichtigeres als dieses Quietscheentchen. Bei dem Kind, das da
auf dem Schoß einer jungen Frau sitzt, ist etwas anders. Das merke ich erst als
zweites. Die mandelförmigen Augen stehen weit auseinander, der Mund ist weit
offen und die Zunge groß und schlaff. Mir wird klar: Das Kind hat das
Downsyndrom, Trisomie 21. Wie jedes achthundertste Kind, das weltweit geboren
wird.
Die
Frau auf dem Bild hat den Blick gesenkt. In sich gekehrt sieht sie aus, die
Lippen lächeln und die Hände sind gefaltet vor dem Bauch ihres Kindes. Und man
fragt sich: Woran sie wohl denkt, worum sie bittet und wofür sie dankt?
Das
Bild heißt „Madonna mit dem Kinde“; es hängt im RELíGIO Museum in Telgte. Die
Künstlerin Madeleine Dietz hat es geschaffen. Sie hat dafür ein Andachtsbild
aus dem 16. Jahrhundert mit dem Computer bearbeitet und das Jesuskind auf
Marias Schoß durch ein Kind von heute mit Downsyndrom ersetzt. Aber was heißt
hier eigentlich ersetzt?
Ich
weiß nicht, wie Sie sich das Jesuskind vorstellen. Aber mir fällt auf, dass
Jesus egal ob bei den Frommen oder den Politischen, den Modernen oder den
Traditionellen, eigentlich immer wie die ein bisschen bessere Version, die ein
wenig perfektere Kopie von uns selber erscheint. Wo sollte denn Gott wohl auch
Mensch werden als in einem, der so ist, so redet, so denkt wie ich. Bloß den
Gefallen tut er mir nicht.
Eine
Betrachterin des Bildes in Telgte hat einmal gesagt:
Sprecherin
(weiblich): „Für mich […] zeigt so ein Bild, wie [Menschwerdung Gottes]
gemeint ist. […] Ein totaler Perspektivwechsel. Aber ich frage mich wie viele
Christen diesen Perspektivwechsel wirklich vollzogen haben. Das gilt auch für
mich. Ich müsste mir auf dem Schoß Mariens an gewissen Tagen eine psychisch
oder demenziell [E]rkrankte […] vorstellen, die an den Nerven zerrt. […] ich
glaube, um so einen Perspektivwechsel zu vollziehen, muss man selbst ziemlich
an Grenzen gekommen sein.“ (1)
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Die
Frage, wie Jesus Christus ist, wem er ähnelt und wem nicht, die treibt
Generationen von Christinnen und Christen um. Immerhin ist in Jesus nach
christlichem Verständnis Gott selbst Mensch geworden. Der Apostel Paulus
schreibt einmal dazu:
Sprecherin
(weiblich): „Christus hielt nicht daran fest, Gott gleich zu sein – wie ein
Dieb an seiner Beute. Er […] wurde in allem den Menschen gleich. In jeder
Hinsicht war er wie ein Mensch.“ (2)
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In jeder
Hinsicht wurde Gott Mensch. Auch in der, die mir nicht passt, die mich
verwirrt, und mir manchmal viel abverlangt.
Das
ist das knallgelbe Quietscheentchen, das der menschgewordene Gott frech in
meine glatten Selbstbilder hält, in mein Ideal vom Menschsein und übrigens auch
in mein Bild von Gott selbst. Gott geht mit mir an Grenzen und für mich darüber
hinaus.
Was
könnte wichtiger, tröstlicher und heilsamer sein?
Einen
überraschenden Tag, wünscht Ihnen
Ihr
Jan-Dirk Döhling aus Bielefeld.
(1) Zitiert nach:
Werner Schüßler, Die Dinge anders sehen, in: Bibel heute 235.3 (2023),
Seite 30.
(2) Philipperbrief
2,7 Basisbibel.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze
https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/63589_WDR35240320Doehling.mp3